Korsett-Stil "S-Line"


Unter dem Druck einer neuen Modesilhouette mit besonderer Betonung einer extrem schmalen Taille entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Korsett-Stil "Straight-Front" das S-Line-Korsett. Die Frauen jener Epoche stellten zunehmend fest,  daß durch diese neue Korsettform auch ein stärkeres Schnüren für eine schmalere Taille möglich war, d.h. der Taillen-Hüftsprung konnte größer werden. Das Empire-Korsett war dann letztendlich eine Weiterentwicklung hieraus mit neuer, sehr schlanker Silhouette, die sowohl in der Form eines Straight-Front-  wie auch als S-Line -Korsetts angeboten wurden. Hier lag die Betonung auf den stark komprimierten Hüften.

Hierzu ist anzumerken, daß diese beiden Korsett-Stile wie auch der des "Empire"-Stils die letzten Korsettformen gewesen sind, mit denen die "Blütezeit des Korsetts" endete. Es ist durchaus zulässig anzunehmen, daß in den genannten Korsettformen alle Erfahrungen vorangegangener Epochen von Korsett-Konzeptionen zusammen geflossen sind.

Für jeden Korsett-Designer ist es eine Herausforderung, diese Korsett-Schnitte mit den heute verfügbaren technischen Mitteln erneut zu konstruieren, zu begreifen und letztendlich so weiter zu entwickeln, daß ein den modernen Erfordernissen angepaßtes und gut tragbares Korsett in allen denkbaren Varianten entsteht.

 

Bild links:

Edythe Lambelle "La Sylphe" zeigt um 1900 angeblich das Korsett Sylphide, zu sehen  in: „Eine Geschichte der Reizwäsche” von Gilles Néres auf Seite 88. *

Bild rechts:

Modernes Arrangement in Zusammenarbeit mit Nu-Nu-Comp.

 

 

* Anm.:

Edythe Lambelle alias "La Sylphe" konnte von Natur aus diese Extremhaltung auch ohne Korsett einnehmen, da sie als Tänzerin und insbes. auch als "Schlangenmensch"  ihre Auftritte hatte. Ich schließe mich einem Hinweis an, daß die in obiger Darstellung gezeigte Haltung vor diesem Hintergrund nicht unbedingt eines S-Line-Korsetts bedurfte, sondern daß ein langes Korsett dieser Extremhaltung eher entgegengestanden haben dürfte.

Aufgrund sich abzeichnender Konturen ist es allerdings nicht auszuschließen, daß Edythe Lambelle unter ihrem Kleid ein kürzeres Korsett getragen hat.  Nebenstehendes Foto soll das Haltungsvermögen der Edythe Lambelle verdeutlichen.

 

 

In einer vergleichenden Analyse der Schnitt-Technik von S-Line-Korsetts und deren Tragbarkeit konnte ich einige Erkenntnisse gewinnen, die mithelfen, jene Irrtümer zu entlarven und richtig zu stellen, die sich besonders im Internet durch die ungeprüfte Weitergabe von individuellen, leider aber generalisierenden Meinungen und daraus abgeleiteten falschen Schlußfolgerungen ziemlich fest etabliert haben.



Irrtum 1 : Ein S-Line-Korsett benötigt besonders starke und geformte Stangen
Falsch!


Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit für die Gestaltung der Silhouettenform besonders geformte und extra steife Korsett-Stangen zu verwenden. Bei einer Analyse historischer Korsett-Originale aus jener Zeit zeigte es sich, daß leichte und ziemlich dünne Fischbeinstäbe und wenig feste Schließen ohne Unterplanchette verwendet wurden. Die Erzeugung der Silhouette erfolgte ausschließlich durch die Schnittgestaltung. Die den damals verwendeten Fischbeinstäben inne wohnenden Steifigkeitseigenschaften können heute durch Spiralfedern weitestgehend nachgestellt werden - leider aber ohne deren geringes Gewicht zu erreichen.  
Durch die Schnittführung wird bei jeden dieser Korsetts - gleichgültig ob Straight-Front-, S-Line- oder auch Viktorianischer Stil - ein Gleichgewicht der Schnürkräfte in allen Ebenen über dem geschürten Körper erreicht. Die Einhaltung dieses Prinzips merkt die Trägerin/der Träger bei dessen täglichen Gebrauch - er empfindet dieses Korsett als bequem.

Zu jedem bestimmten Korsettstil gehört eine bestimmte Stangenführung, die nicht willkürlich angelegt oder verändert werden darf. Sie ist ein von dem Schnittprinzip her wesentlicher Bestandteil des Stils

Bild von links nach rechts: (Zum Vergrößern bitte in das Bild klicken)

Straight-Front um ca. 1898 - S-Line um ca.1902 - S-Line Specialite (Vorder- und Seitenansicht) um ca. 1908

 

 

Die heute in modernen Korsetts verwendeten steifen Unterplanchetten sind im Prinzip nur eine Variante der alten, im vorletzten Jahrhundert üblichen, leicht verformbaren Versteifungen im Frontbereich des Korsetts, die ausschließlich der Bequemlichkeit und Sicherheit dienen. Gemäß den Anforderungen des Schnittes wird die Planchette, im unteren Bereich, der individuellen Anatomie folgend,  so geformt und angepasst, dass der mögliche Effekt einer uner-wünschten, der Bequemlichkeit sehr abträglichen Bauchfalte mit Sicherheit vermieden wird. Eine gute Anpassung wird umso wichtiger, je enger die Schnürung geplant ist und damit die Schnürkräfte auch größer werden.

Die beiden extra steifen Stangen rechts und links der Rückenschnürung sind eine technische Notwendigkeit, um die erheblichen Schnürkräfte möglichst gleichmäßig über die ganze Länge des Korsett-Rückens zu verteilen und dadurch mitzuhelfen, den Schnürspalt zwischen den beiden Teilen von oben bis unten gleich breit (oder auch schmal) zu halten. Die Verwendung von Federstangen an den anderen Stellen des Korsetts wird hiervon nicht beeinflußt.
Gelegentlich findet man aber auch Korsetts, bei denen nicht nur diese "Stangen neben den Schnür-Ösen" extra steif sind, sondern auch alle anderen Stäbe ebenso steif sind. Das sind Korsetts für "Extrem-Schnürer", also Tightlacer, deren Ziel es ist, ihren Körper in eine für sie "ideale Form" zu bringen und so über lange Zeit auch zu halten. Häufig sind dann diese Stangen den individuellen Erfordernissen in ihrer Form, Dicke, Länge und Lage jeweils angepaßt.

 

Irrtum 2: Ein S-Line Korsett  ist unbequem


Da ein S-Line-Korsett einen ausgearbeiteten Rücken hat, erzeugt es einen gewissen Druck auf die Wirbelsäule, der den Träger zu einer geraden Haltung zwingt. Ist das Korsett richtig angepaßt, wird der Schnür-Spalt zwischen den beiden Teilen durchgehend bis auf ca. 2 cm parallel geschlossen sein. Das zeigt an, daß der Schnürdruck korrekt verteilt wird und das Korsett auch über längere Zeiträume problemlos tragbar ist. Der generell verwendete und unter der Schnürleiste angeordnete Schnürschutz verteilt den Druck des Korsetts auf den Körper noch weiter vom einem "Punkt" auf eine größere "Fläche”, was den Tragekomfort noch zusätzlich erhöht.


Ist der Schnürspalt bei einem so konstruiertem Korsett größer oder gar ungleichmäßig, deutet das auf eine unzureichende Druckverteilung hin (zum Beispiel auf die Nieren), wodurch das Tragen des Korsetts über einen längeren Zeitraum u.U. tatsächlich sehr unangenehm werden kann. Darüber hinaus können die Stäbe rechts und links der Schnür-Ösen-Reihe einen Spiraleffekt erfahren und man spürt die scharfe Kante des verdrehten Stabes im Rücken. Ein ähnlicher Effekt tritt auch dann auf, wenn das Korsett nicht wirklich exakt parallel geschlossen ist.
Daraus kann man folgern, daß das Korsett nicht dort anliegt, wo es sein sollte, sondern die gesamte Konstruktion hat sich zu weit nach vorn verlagert. Beim Design und beim Anfertigen eines Korsetts muß sich der Hersteller eines Korsetts über diese Problematik sehr bewußt sein, denn sie betrifft alle Stilrichtungen und nicht nur ausschließlich das S-Line-Korsett

 

Irrtum 3: Ein S-Line Korsett erzwingt eine unnatürliche Haltung

 

S-Line-Korsett (Hinteransicht) S-Line-Korsett (Sitzposition) S-Line-Korsett (stehend)

S-Line in verschiedenen Positionen (sitzend, stehend)

Zum Vergrößern bitte in die Bilder klicken.

 

Diese Behauptung ist sowohl richtig, wie auch falsch zugleich. Die weiter oben abgebildete  Darstellung der "Edythe la Sylphe" zeigt eine solche, für unser heutiges Empfinden, unnatürliche Körperhaltung. Bei den Bild daneben ist eine solche Haltung nur sehr wenig ausgeprägt. Beide sind vom Prinzip her "Haltungskorsetts".

 

Je nachdem, welche Haltung die Biegsamkeit des Körpers zuläßt und für welche Haltung das Korsett bei der Schnittführung entworfen wurde, ist sowohl eine überbetonte Haltung mit durchgedrückten Rücken, wie auch eine extrem aufrechte Haltung erreichbar. Allerdings müssen die körperlichen Voraussetzungen gegeben sein. Sie können nicht erschneidert werden.


Wird der Rücken mehr oder weniger durchgedrückt, bedingt das Korsett eine gewisse Muskelpräsenz im Bereich des unteren Rückens. Diese Muskelpartie wird während der Zeit des Tragens angespannt - gleichgültig ob im Sitzen oder im Stehen. Allgemein bekannt ist, daß langes Sitzen als unbequemer empfunden wird als das Stehen. Ursache dafür ist,  daß wir eine "Toleranzgrenze für unser Wohlbefinden" zwischen beiden Positionen registrieren, die von der Länge des Korsetts im vorderen Oberschenkelbereich bestimmt wird: Je länger es über die Oberschenkel nach unten reicht, um so unbequemer wird es empfunden werden. Bei ausreichender Länge, zum Beispiel wenn es bis nahe der Knie reicht, ist das Sitzen vollkommen ausgeschlossen.
Gleichgültig, ob der/die Träger/Trägerin sitzt oder steht, die vom Korsett vorgegebene Körperhaltung wird solange unveränderlich fixiert, wie es getragen wird - dies gilt allerdings für das viktorianische Korsett ebenso wie für das S-Line- oder Straight-Front-Korsett.

 

 

© Copyright Sabine Zieseniss